Unsere Zeit ist schließlich kostbar und der Tag hat nur 24 Stunden. Minus 16 für Schlaf und Arbeit macht 8 Stunden Freizeit. 90 Minuten davon für einen komplett unbekannten Film aufzuopfern, stellt – so gesehen – eine bedeutende Investition dar.
Und dann rinnen uns die 90 Minuten, die wir mit dem Gucken eines Films verbringen könnten, bei der Suche durch die Finger. Seite für Seite klicken wir uns durch das Streaming-Angebot und trauen uns nicht, den ersten Spatenstich zu setzen. Umso wertvoller wirken die Gold-Nuggets, die uns unerwartet vor die Füße fallen. Sie geben uns nicht nur das Filmerlebnis, nach dem wir so lange gesucht haben, wir erleben auch hautnah, wie unser Horizont ein Stückchen wächst. Ein neuer Regisseur, ein neues Genre, ein neuer Lieblingsschauspieler – ein neues Basislager für die nächste Schatzsuche.
Die Freude über einen unerwarteten Fund kann ich natürlich niemandem abnehmen. Meine neuesten Entdeckungen zu teilen, kommt der Sache aber nahe. Diese unerwarteten Streaming-Juwelen habe ich allesamt auf VIDEOBUSTER gefunden und direkt ins Herz geschlossen:
1. The Chaser (2008, Krimi-/Thriller, Südkorea)
Das hat mich angezogen:So weit, so gut. Allerdings hätte ich mit diesen Informationen auch jeden anderen Thriller aus Korea schauen können. Warum ist mir gerade dieser im Gedächtnis geblieben?
Darum geht es in The Chaser:
Statt einem Polizisten folgt der Zuschauer Eum Joong-ho, einem korrupten Ex-Bullen, der sich nach seinem Rauswurf aus der Task-Force als Zuhälter über Wasser hält. Antiheld trifft die Sache nicht ganz. „Schmutz“ – der Name, unter dem eines seiner Callgirls ihn auf dem Handy gespeichert hat – schon eher. Joong-ho lässt das kalt. Ungeniert mault er alles und jeden in seiner Umgebung an. Vor allem „Glatzkopf“, sein etwas tollpatschiger Handlanger, bekommt den Unmut seines Chefs zu spüren, wenn es wieder einmal Stress gibt. Eine seltsame Sympathie strahlt der Gauner aber trotz (oder gerade aufgrund) seines ruppigen Gehabes aus.
Das größte Problem des Zuhälters besteht momentan darin, dass seine Angestellten reihenweise nicht zur Arbeit erscheinen. Als er die Nummer eines Kunden wiedererkennt, der die Mädchen vor ihrem Verschwinden bestellt hat, geht er zunächst von einem Konkurrenten aus. Abwerbung lautet die Vermutung. Schließlich meldet sich der Anrufer erneut. Also setzt er sein letztes verbliebenes Callgirl auf die Nummer an und macht sich an die Verfolgung. Er ahnt nicht, dass seine Ermittlung eine Katastrophe in Gang setzt.
Das macht The Chaser zum Überraschungshit:
Der heimliche Star des Films ist vermutlich die Kulisse von Seoul bei Nacht, die Regisseur Na Hong-jin meisterhaft einfängt. Die verworrenen Gassen, überwucherten Gärten und Neonlichter wirken fremd und doch irgendwie vertraut. Beim unbeschwerten Leinwand-Tourismus bleibt es allerdings nicht. Was unaufgeregt beginnt, entwickelt sich allmählich zu einer fesselnden Geschichte mit konstanten Schlägen in die Magengrube.
Regisseur Na Hong-jin spielt mit Widersprüchen. Zuerst zeigt er dem Zuschauer einen deprimierenden Moloch – der trotz allem einladend und interessant wirkt. Dann bevölkert er ihn mit sympathischen Ganoven. Nachdem ihm all das gelingt, liefert er den versprochenen Thriller ab, um schlussendlich doch eine Tragödie zu erzählen und uns komplett den Boden unter den Füßen wegzureißen. Trotz aller dieser Widersprüche und Wendungen funktioniert die Geschichte tadellos – oder vielleicht gerade deshalb. Schließlich gibt es keine Spannung ohne Gegensätze.
2. Chopper (2000, Drama/Krimi/Komödie, Australien)
Das hat mich angezogen:In diesem Fall muss ich etwas mogeln. Mark „Chopper“ Read – die Person, um die es im Film geht – war mir bereits bekannt. Auch vom quasi-biografischen Film der Gangster-Ikone wusste ich. Was genau der Film zeigt und wie er dabei vorgeht, hätte ich vorher aber nicht beantworten können. Ich wusste nichts über den Regisseur, den Ton und was mich sonst noch erwartete. Was mich angezogen hat, war ein Name – mehr nicht. Erwartet habe ich im besten Falle ein gut gemachtes Gangster-Drama. Was ich tatsächlich zu sehen bekam, lässt sich schwer mit wenigen Worten einordnen, also hole ich etwas aus.
Darum geht es in Chopper:
Warum sollte überhaupt jemand einen Film über diesen Mark „Chopper“ Read drehen? Gute Frage. Die kurze und knappe Antwort lautet: Weil Chopper so ziemlich der faszinierendste, bekloppteste Vogel ist, den die Unterwelt je ausgespuckt hat. Wer sonst würde einen Bandenkrieg in seinem Zellenblock lostreten – und sich nicht mal mehr an den Grund für die Fehde erinnern? Kein Problem für Chopper:
Realität und Mythos verschwimmen, sobald es um Chopper geht. So übertrieben wirken viele Geschichten, die sich um den Langzeitsträfling und Schutzgelderpresser ranken. Belege für einige existieren, bei anderen scheiden sich die Geister. Das liegt auch daran, dass der zwanghafte Lügner und Soziopath nicht unbedingt als zuverlässiger Erzähler in Frage kommt. Chopper dient Mark in erster Linie als Rolle, in die er bei Gelegenheit schlüpft. Mit ihr hat sich Read zuerst einen Namen in der Unterwelt gemacht, um sie später als Marketing- Gimmick auszuspielen. Zum Beispiel um Bücher zu verkaufen. Mark spielt diese Figur zwar, gänzlich frei erfunden ist sie aber ebenfalls nicht. Oder mit Choppers eigenen Worten:
Das macht Chopper zum Überraschungshit:
Ich habe mir erhofft, dass Chopper (2000) etwas Licht ins Dunkel bringt. Diesen Versuch unternimmt der Film aber nicht – zumindest nicht wirklich. Vieles zeigt das Biopic, einiges aber aus mehreren Perspektiven oder mit zwischengeschaltetem Erzähler. Stattdessen erfahren wir, was möglicherweise in Mark vorgeht und dass es eine Menge widersprüchlicher Motivationen gibt, die ihn antreiben. Das ist manchmal witzig, manchmal schockierend und manchmal sogar tragisch – vor allem, wenn sich Mark wieder und wieder in einem Netz aus Aktion und Reaktion verheddert. Ein Beispiel:
Mark hat sich mit der Figur Chopper selbst ein Gefängnis geschaffen. Sie zwingt ihn dazu, in einer Weise auf Ereignisse zu reagieren, die er regelmäßig bereut. Auf seine überzogenen, gewalttätigen Reaktionen folgt stets das Mitleid, das er seinen Opfern gegenüber offensichtlich empfindet. Gleichzeitig lässt Marks Paranoia keinen Platz für Schwäche. Eine offene Deckung kann jederzeit seinen Tod bedeuten. Also verkörpert er weiter den kaltherzigen Gangster, den er auf den Titelseiten der Zeitungen bewundern kann. Damit niemand sein Dilemma wittert, streitet er jede Verletzlichkeit rigoros ab und spielt Chopper umso überzeugender. Mark setzt jedes Mal einen drauf und lässt die Situation weiter eskalieren. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Optisch unterstreicht der Film die Ergebnisse, die er als Charakterstudie abliefert. Die meisten Szenen folgen einem strikten Farbcode: blassblau, rosa, schwefelgelb, tiefgrün, rot. Jede wirkt einheitlich und abgeschlossen, als ob jedes Mal ein neuer Mark oder Chopper auftritt. Marks zersplittertes Ego reagiert wieder und wieder auf das, was ein anderer Aspekt seines Charakters eben noch getan hat. Wie jemand, der sich mit seinem Echo unterhält.
Szenen mit Drogenkonsum folgen ebenfalls einer ästhetischen Leitlinie. Sobald sich ein Charakter im Bild berauscht, wirkt das Schauspiel aller Anwesenden plötzlich abgehackt, überdreht – wie eine Karikatur. Diesen Effekt erzielt der Film wahrscheinlich dadurch, dass er seine Schauspieler mit halber Geschwindigkeit spielen lässt. Der Zuschauer bekommt das Segment dann in doppelter Geschwindigkeit zu sehen. Dialoge bestehen für diesen Zeitraum lediglich aus Tonspuren, die separat aufgenommen wurden. Bevor der Zuschauer den Effekt bemerkt, ist der „Rausch“ auch schon abgeklungen.
3. Limbo (2018, Krimi/Drama/Neo-Noir, Hongkong)
Das hat mich angezogen:In diesem Fall ist die Antwort einfach: Das Cover, dann der Trailer. Limbo sieht großartig aus. So großartig, dass mir alles Weitere egal war.
Darum geht es in Limbo:
Das macht Limbo zum Überraschungshit:
Obwohl die Story hervorragend funktioniert, stiehlt das Produktionsdesign dem Inhalt des Films komplett die Schau. Limbo mutet an wie ein Film aus einer längst vergangenen Epoche. Dazu trägt auch die Entscheidung bei, Limbo komplett in Schwarz-Weiß zu halten – eben wie einen klassischer Film noir. Der Mangel an Farbe wirkt aber weder trostlos noch langweilig, sondern facettenreich und überaus lebendig. Dafür sorgen das tiefe, teerartige Schwarz, die flirrenden Glanzlichter und alles dazwischen. Es lässt sich gar nicht überbetonen, wie umwerfend dieser Film aussieht.
Der Kontrast von Dargestelltem und Darstellung wirkt so befremdlich, dass Limbo sich von der ersten Sekunde an in die Netzhaut brennt. Wer einen wahrhaft verstörenden Film sucht, findet hier sein Ventil – und dafür braucht es nicht einmal Unmengen von filmischer Gewalt. Der wahre Schrecken wartet anderswo. Er lauert im Zusammenspiel von Bild, Ton und den Abgründen der Geschichte. Limbo vollführt ein Attentat auf die Sinne und der Zuschauer verharrt abwechselnd in Schockstarre und Faszination. Was Limbo leistet, versucht niemand sonst – geschweige denn, dass es in gleicher Weise gelänge.
4. Ein Feuerwerk am helllichten Tage (2014, Krimi/Drama/Film Noir, China)
Das hat mich angezogen:Im Grunde hat mich der Trailer eiskalt übers Ohr gehauen. Was ich gesucht oder erwartet habe, war im Grunde ein zweites Limbo. In Farbe. Oder generell einen der kantigen Ost-Asien-Thriller, die sich bereits im Artikel tummeln. Pustekuchen. Zwar erweckt der Trailer den Eindruck, dass die Morde eine prominente Rolle in der Geschichte spielen, der Film selbst bleibt aber überraschend entspannt und intim.
Tatsächlich bin ich froh, auf den „Etikettenschwindel" hereingefallen zu sein – oder auf meine eigene Erwartungshaltung. Zwar habe ich mir etwas anderes erhofft, enttäuscht wurde ich aber keineswegs. Im Gegenteil! Feuerwerk am helllichten Tage hat meine Vorstellungen nicht nur übertroffen, sondern mich regelrecht aus meiner Komfortzone gerissen.
Darum geht es in Ein Feuerwerk am helllichten Tage:
Die attraktive Wu Zhizhen, die in einer Wäscherei arbeitet und mit mehreren der Opfer ein Verhältnis hatte, bildet den Knotenpunkt der Vorfälle. Zhang versucht ebenfalls sein Glück und begibt sich absichtlich in die Schusslinie des Killers.
Das macht Ein Feuerwerk am helllichten Tage zum Überraschungshit:
Die Kinematographie des Films unterstützt diesen Effekt. Zwar handelt es sich bei Ein Feuerwerk am helllichten Tage – wie bei Limbo – um einen Neo-Noir-Film, allerdings zur Abwechslung in Farbe. Der typischen Noir-Stimmung schadet das aber ganz und gar nicht. Insbesondere Szenen, in denen sich die wirr-bunten Neonreklamen der Wäschereien und Pfandleihen vom Nachthimmel abheben, strahlen eine verträumte Melancholie aus.
Dieses Schema zieht sich durch den ganzen Film – seine Charaktere, seine Handlung, sogar seine Kulisse. Selbst der Trailer lockt mit etwas, das der Film nur halb liefert. Ein Feuerwerk am helllichten Tage bietet ausreichend Vertrautes, um anzuziehen, und genügend Fremdes, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Das ständige Spiel mit den Leerstellen wirkt wie ein Trichter, wie der Sog eines Wasserfalls. Bevor wir es merken, ist es bereits zu spät und die Credits laufen durchs Bild. Der Mörder ist zu diesem Zeitpunkt bereits gefasst – lange vor dem Finale des Films. Das Rätsel verlagert sich in die zentralen Figuren und ihre Geschichte. Als auch dieses Geheimnis gelüftet ist, fällt auch Zhang Zili zurück in alte Gewohnheiten und der Film ist vorbei. Es gibt nichts mehr zu erzählen.
Ein Feuerwerk am helllichten Tage zeigt, dass Geschichten nur im Spannungsverhältnis von Fremden und Vertrauten entstehen können. Sobald das Fremde dem Vertrauten vollständig Platz macht, gibt es nichts mehr zu erzählen. Die Routine stellt sich ein. Filme wie Ein Feuerwerk am helllichten Tage bringen Kreativität und Spannung in eine Welt, die sich in einer Flut aus Sequels, Prequels und Spin-offs erschöpft. Wir können unseren Teil dazu beitragen: indem wir den Sprung ins kalte Wasser wagen und uns auf etwas Neues einlassen.