Und 6 Filme, die uns dabei helfen - Lynch ist speziell. Was seine Werke so besonders macht, wie weit sein Einfluss reicht, erfahrt ihr in diesem Special - mit 6 Filmtipps für wahre Fans
Wenige Regisseure schaffen es, ihren Namen so eng mit bestimmten Filmerlebnissen zu verknüpfen wie David Lynch. Irgendwo zwischen „kafkaesk“ und "surreal" hat sich das Wort
„lynchian“ als Adjektiv eingenistet. Das geht so weit, dass nicht nur Lynch und seine Nacheiferer als
„lynch-haft“ bezeichnet werden, sondern auch Filme, die unbeabsichtigt eine ähnliche Stimmung beim Zuschauer hervorrufen. Allerdings unterscheiden sich die Filme in Lynchs Filmografie zum Teil recht stark. Dune und Eraserhead haben beispielsweise nur wenig gemeinsam.
Was eint zumindest viele von ihnen?
Und was meinen wir eigentlich, wenn wir von „lynch-haften“ Filmen sprechen?
Ein kurzer Blick ins Oxford-Wörterbuch klärt auf:
„[Lynchian:] Charakteristisch für die Filme oder Fernseharbeiten von David Lynch, erinnernd oder nachahmend. Lynch ist bekannt dafür, dass er surreale oder
unheimliche
Elemente alltäglichen Umgebungen
gegenüberstellt und fesselnde visuelle Bilder verwendet, um eine traumartige Qualität des
Mysteriösen oder Bedrohlichen zu unterstreichen.“
Auch Beispiele aus Lynchs Werk führt der Eintrag auf, allen voran Blue Velvet und Twin Peaks.
Vor allem Eraserhead falle durch „pure Lynchhaftigkeit“ auf. Natürlich lässt sich diese
Liste beliebig erweitern, beispielsweise mit Lost Highway, Wild at Heart oder Mulholland Drive. Sie alle brechen mit Erzählstrukturen, um eine albtraumhafte Atmosphäre zu
erzeugen und den Zuschauer gezielt zu verunsichern. Plotpunkte werden etabliert, nur
um ihnen später zu widersprechen. Sich gegenseitig ausschließende Dinge geschehen einfach: ganz ohne Erklärung.
Lynchs Charaktere verhalten sich ebenfalls häufig seltsam. Manchmal scheinen sie gänzlich aneinander vorbeizureden. Reaktionen erscheinen willkürlich, zu stark oder zu
schwach. Als erinnere man sich an einen Traum und im Nachhinein ergibt nichts wirklich Sinn.
Subtiler Schrecken: Borderline-Horror
All das verleiht Lynchs Filmen eine unangenehme, mitunter verstörende Atmosphäre. Nicht direkt Horror, aber eben in direkter Nachbarschaft. Dieser Grenzgang ist oft sogar effektiver als konventioneller Grusel: Wie sollen wir Situationen meistern, in denen wir unseren Verstand, unseren
Sinn für Logik, nicht benutzen können? Serienkiller, Zombies und andere Übelmänner lassen sich mehr oder weniger konventionell bekämpfen. Wir können die Gefahr verstehen, die von ihnen ausgeht, und entsprechend
reagieren.
Was aber, wenn wir uns nicht einmal sicher sind, was das Problem ist? Wenn unsere Existenz selbst uns verunsichert und terrorisiert?
Es gibt also durchaus Gründe, Lynchs Filmen einen gewissen Gruselfaktor zuzusprechen. Ein Nebeneffekt? Vielleicht. Möglicherweise aber ein wichtiger Grund, warum seine Filme so unter die Haut gehen.
Ein Leben nach Lynch
Lynch ist von uns gegangen und seine Fans trauern. Nicht nur um ihr Idol, sondern auch, weil es keine neuen Filme des Regisseurs mehr geben wird. „Lynch-haftes“ Kino zählt nun als begrenzte – und damit kostbare – Ressource.
Wo bekommen also die Lynch-Junkies unter uns ihr Methadon her? Die VIDEOBUSTER-Redaktion hat ein paar Filme und Serien zusammengestellt, die euch in dieser schweren Zeit bei der Stange halten.
Hier sind unsere Top 6 Lynch-Filme (ohne David Lynch):
New York ist die Hölle. Zumindest bekommt der Vietnam-Veteran Jacob Singer immer häufiger den Eindruck, nicht willkommen zu sein – sowohl in
der U-Bahn als auch bei Gesprächen mit anderen Menschen. Manchmal scheint ihm niemand wirklich zuzuhören. Menschen, die er gestern noch
gesehen hat, existieren angeblich nicht mehr. Er beobachtet schreckliche Dinge oder meint vielleicht nur, sie gesehen zu haben. Niemand scheint sich um die körperlichen Schmerzen zu kümmern – oder seine seelischen Narben, die auch Jacob selbst viel zu lange ignoriert hat.
Beklemmend, albtraumhaft, atmosphärisch. Nur die Auflösung ist eher untypisch für Lynch.
Lain Iwakura fällt es schwer, durch das Internet und ihren Schulalltag zu navigieren. Zunächst passt die stille Außenseiterin in keine der beiden Welten besonders gut hinein – bis die
E-Mail einer toten Mitschülerin sie aus der Isolation lockt. Lain sucht nach Antworten und gerät mehr und mehr in
den Fokus ihrer eigenen Nachforschungen. Warum kennen völlig Fremde ihren Namen? Wer sind die Männer in Schwarz, die Tag und Nacht vor ihrem Haus parken? Je mehr sie nach Erklärungen sucht, desto weniger ergeben die Zusammenhänge Sinn. Die Grenzen zwischen Bildschirm und Netzhaut
verschwimmen und während sich Lain in ihrem Zimmer verbarrikadiert, löst sich die Welt um sie herum in ihre Bestandteile auf.
Surreal, futuristisch, existenziell. Animiert und im Serienformat, aber trotzdem mit deutlichen Lynch-Parallelen.
Donnie hat Glück im Unglück. Die lästige Angewohnheit, nach dem Schlafwandeln auf Golfplätzen aufzuwachen, rettet ihm schließlich das Leben, als eine Flugzeugturbine nachts in seinem Schlafzimmer aufschlägt. Der Vorfall zeichnet Donnie und er beginnt, seine Perspektive zu hinterfragen. Nicht
nur auf seine Mitmenschen, sondern auch auf das Universum selbst. Während alledem beginnt es
unter der Oberfläche der Vorstadtidylle mächtig zu brodeln. Donnie hat etwas in Gang gesetzt, das er selbst noch nicht versteht.
Americana, Vorgärten mit weißen Zäunen und unterschwelliger Schrecken: Lost Highway und Blue Velvet lassen grüßen.
Der bei weitem älteste Film auf unserer Liste – und vielleicht sogar eine Inspiration für Lynch selbst. Die junge Organistin Mary überlebt knapp einen Autounfall, bei dem zwei ihrer Freunde ums Leben kommen. Als sie in einer neuen Stadt nach einer Anstellung sucht, plagen sie immer häufiger
seltsame Erscheinungen. Als der Alltag ihr allmählich über den Kopf wächst, nimmt der Strudel der Ereignisse Besitz von ihr.
Psychologisch tiefgehend und surreal. Vor allem die minimalen – aber geschickt eingesetzten – Mittel von Schauspiel und Schnitt haben daran ihren Anteil.
Der zweite animierte Eintrag auf unserer Liste, allerdings handelt es sich bei Perfect Blue um einen Feature-Film. Mit seinem Regiedebüt schlug Satoshi Kon nicht nur seiner Zeit Wellen in Japan, sondern auch weltweit. Vor allem der Erfolg von Darren
Aronofskys Black Swan ist in diesem
Zusammenhang interessant: Er macht sich nicht nur die Handlung des Originals zu eigen, sondern stellt
buchstäblich Einstellungen aus dem Animationsfilm nach.
Perfect Blue spielt geschickt mit der Desorientierung des Zuschauers. Oft dauert es ein paar Sekunden, ehe wir einen Schnitt bemerken. Szenen beginnen und wechseln urplötzlich den (Zeit-)Ort. Dialoge gehen nahtlos ineinander über. Gesprächspartner werden mitten im Satz ausgetauscht. Wir
sehen nicht nur dabei zu, wie eine junge Frau ihren Verstand verliert – wir erfahren selbst, wie es sich höchstwahrscheinlich anfühlt.
Satoshi Kon nutzt Schnitte präzise, um die Logik seines Films zu dehnen und zu zerbrechen. Ganz im Sinne des Meisters – wenn auch mit einem etwas anderen Spin.
The Killing of a Sacred Deer handelt von Martin, einem 16-jährigen Jungen, der dem Chirurgen seines jüngst verstorbenen Vaters nachstellt. Dabei sucht er nicht nur Kontakt zum Arzt selbst, sondern auch zu dessen Familie. Bald schon zeichnet sich ab, dass der Jugendliche nichts Gutes im Schilde
führt.
Der unscheinbarste, aber wahrscheinlich seltsamste Film auf unserer Liste. Und gerade deshalb der wahrscheinlich „lynch-hafteste“. The Killing of a Sacred Deer ist seltsam. So seltsam, dass es mitunter schwerfällt, eine Erklärung für das "Warum" zu finden. Es ist nicht nur das Schauspiel, die
Charaktere, ihre Motivationen und Handlungen – es ist irgendwie alles und gleichzeitig nichts im Speziellen. Diese Subtilität macht die mysteriöse Anziehung des Films aus, die Lynch in nichts nachsteht.
Der vielleicht „lynch-hafteste“ Film, der nicht von Lynch selbst stammt.