Wortkarge Helden

Diese Charaktere kommen ohne großes Blabla aus

Diese Charaktere kommen ohne großes Blabla aus - Wir zeigen mit 5 Filmbeispielen, dass weniger Dialog oft mehr erreicht.
Wortkarge Helden: Diese Charaktere kommen ohne großes Blabla aus
Wortkarge Helden: Diese Charaktere kommen ohne großes Blabla aus
Mia: „Hasst du das nicht auch?
Vincent: „Was denn?
Mia: „Unbequeme Stille. Warum halten wir es für notwendig, über irgendwelchen Blödsinn zu reden, um uns wohl zu fühlen?"
Vincent: „Ich weiß es nicht. Das ist ne’ gute Frage.
Mia: „Das ist der Moment, in dem man weiß, dass man jemand Besonderen gefunden hat. Wenn man einfach mal für eine Minute die Klappe halten und die Stille genießen kann.

- Pulp Fiction, USA 1994, © Miramax
Heureka! Es fällt schwer, Mia Wallace in dieser Angelegenheit zu widersprechen. Ironischerweise halten sich Quentin Tarantinos Charaktere nicht besonders gewissenhaft an diesen Vorsatz. Schließlich sabbeln Mia und Vincent selbst die meiste Zeit über ohne Unterbrechung – mit Ausnahme der Schweigepause, die beide jedoch sofort kommentieren müssen.

Manchmal gibt es ja auch etwas zu sagen. In allen anderen Fällen ist Stille häufig die bessere Alternative. Auch auf der Leinwand. So kann ein Film seine Bilder für sich sprechen lassen, anstatt den Zuschauer permanent an der Hand zu halten.

Funktionieren wortkarge Figuren und Filme ohne viel Dialog? Und ob. Die VIDEOBUSTER-Redaktion hat fünf der gelungensten Beispiele für Dialogverzicht zusammengesucht.

1. Ryan Gosling als „Fahrer“ – Drive (Nicolas Winding Refn, USA, 2011)

Ryan Gosling leistet ganze Arbeit als Driver. Er spielt einen Charakter, der scheinbar aus allen stillen, starken Typen der Filmgeschichte herausdestilliert wurde. Das Ergebnis grenzt an Parodie, kriegt aber gerade noch die Kurve. Ein paar Prozent mehr schweigsames Starren und alles wäre vorbei.

Das stille Auftreten dient allerdings nicht als Gimmick oder versucht, einen komplexen Charakter vorzutäuschen, ohne sich einen auszudenken. Drive gibt wenig von seinem Protagonisten preis. Trotzdem geht eindeutig mehr hinter seiner Stirn vor sich, als wir direkt zu sehen bekommen. Als würde eine ganze Vorgeschichte existieren, an der sich das Drehbuch zumindest orientiert.

Drive zeigt uns nur die Umrisse. Was wir dazwischen vermuten, lässt Raum für Interpretation, ohne dabei ins Willkürliche abzudriften.

Narrative Brotkrumen

Regisseur Refn streut im gesamten Film kleine Hinweise, die Goslings Charakter ohne Worte beschreiben.

Da wäre zum Beispiel die Armbanduhr des Stuntman und hochkarätigen Fluchtwagenfahrers. Die sieht zunächst nicht aus, als handele es sich um etwas Besonderes. Nur eine schlichte Uhr mit weißem Ziffernblatt und schlichtem Lederarmband. Keine robuste Einsatzuhr, keine hochmoderne Smartwatch, keine protzige Rolex. Einfach, unauffällig – ordinär?

Ganz und gar nicht. Schließlich handelt es sich um eine Patek Philippe Calatrava – eine Schweizer Uhr jenseits der 50.000 Euro. Der Fahrer benutzt sie, um die fünf Minuten zu messen, die er seinen Auftraggebern beim Überfall gewährt. Dafür schnallt er sie ans Lenkrad, wo wir einen kurzen Blick auf sie erhaschen.

Das außergewöhnliche Stück sagt einiges über ihren Besitzer aus. Er ist ebenfalls ein Meister seiner Klasse, der großes Aufsehen lieber vermeidet. Präzision, Planung und Können gehören zu seinen größten Stärken. Das bekommen wir unter anderem bei der ersten Verfolgungsjagd im Film zu sehen: Jedes kleine Detail folgt einer Funktion. Selbst das Basketballspiel im Radio, zu dem er immer wieder wechselt, wenn er nicht gerade den Polizeifunk abhört, erfüllt einen Zweck. Alles greift nahtlos ineinander – wie die Zahnräder eines Schweizer Uhrwerks.

Die spartanische Wohnung des Drivers steht im krassen Widerspruch zur Wahl des luxuriösen Zeitmessers. Bei näherer Betrachtung vervollständigt sich das Bild: Der Fahrer befindet sich ständig im Aufbruch. Er besitzt nichts, was er nicht zurücklassen könnte. Mit Ausnahme der Uhr – ein kleines Vermögen, das er stets bei sich tragen kann. Darüber hinaus gibt es nichts, was ihn langfristig bindet oder aufhält. Alles andere ist überflüssiger Ballast.

Als der Driver seiner Nachbarin und ihrem kleinen Sohn beinahe im Supermarkt begegnet (und unauffällig den Gang wechselt), bestätigt sich der Eindruck. Draußen auf dem Parkplatz sieht er sie wieder. Der Wagen der Familie springt nicht an. Erst jetzt entscheidet er sich, auf die beiden zuzugehen, um zu helfen.

Bei alledem bleibt er so wortkarg wie möglich. Den Jungen überzeugt er mit ein paar knappen Worten und einem aufgesetzten Lächeln. Auf die Frage, ob er ein Glas Wasser möchte, antwortet er mit einer langen Pause und einem „Okay“. Langsam beginnt er, sich zu öffnen, ohne jemals viel zu reden oder etwas Wichtiges über sich preiszugeben.

Ich bin Fahrer. Beim Film.

Auf Stille folgt Sturm

Schließlich überschlagen sich die Ereignisse und die unterkühlte Fassade zeigt das erste Mal Risse. Wir beginnen zu ahnen, was unter der ausdruckslosen Mine des Fahrers lauert.

In einem Diner begegnet er einem ehemaligen Auftraggeber. Der Mann beginnt, unbekümmert über den Überfall zu erzählen, bei dem der Driver hinter dem Lenkrad saß, als handele es sich um einen normalen Job. Sein Partner sei bereits verhaftet worden und im Gefängnis gestorben.

Der Fahrer dreht sich kurz um, starrt den Mann an und sagt:

Wie wäre es damit: Halt den Mund, oder ich trete dir die Zähne in den Hals und schließe ihn für dich.
Der Driver spricht selten. Das sorgt dafür, dass wir aufhorchen, sobald er doch einmal die Stimme hebt. Vor allem, wenn er – wie in diesem seltenen Fall – die Fassung verliert. Dann gleicht jedes Wort einem Donnergrollen. Der Dialogverzicht hat also noch einen weiteren Effekt: Die Stille gibt jeder spärlich gesäten Zeile zusätzliches Gewicht.

2. Beat Takeshi als Kommissar Azuma – Violent Cop (Takeshi Kitano, Japan, 1989)

Azumas Vorgehen als Polizist geht bestenfalls als fragwürdig durch. Das erste Mal beobachten wir ihn, als er einen Jugendlichen nach Hause verfolgt, kurz nachdem er und seine Mitschüler einen Obdachlosen zusammenschlagen. Azuma (Takeshi Kitano) verfolgt ihn und verprügelt ihn kurzerhand selbst – mit dem Hinweis, er möge sich morgen bei der Polizei stellen und seine Freunde gleich mitbringen.

Am nächsten Tag begleiten wir Azuma auf dem Weg zur Arbeit. In einer langen Einstellung stapft er durch Tokyo und kommt schließlich im Präsidium an. Statt sich verspätet zur Ernennungsfeier des neuen Polizeioberkommisars zu gesellen, setzt er sich an seinen Platz und schlägt die Zeitung auf. Den Monolog über Ehre und Pflichterfüllung, den sein neuer Chef gerade hält, verpasst er.

Ärger liegt in der Luft. Azuma ist zu spät. Deutlich. Er missachtet seinen neuen Vorgesetzten, der sich selbst als Musterbeispiel für Zucht und Ordnung in Szene setzt. Er arbeitet nicht, liest Zeitung und raucht gemütlich eine Zigarette nach der anderen. Noch vor etwa 12 Stunden hat er die Dienstvorschriften mit Füßen verletzt – und wahrscheinlich selbst eine Straftat begangen.

Langsam trudeln seine Polizei-Kollegen ein und setzen sich an ihre Plätze. Grinsend bis ungläubig schauen sie in Azumas Richtung, als sie sich setzen.

Azuma? Der neue Chef will dich sprechen.
Keine Reaktion. Azuma blättert weiter in der Zeitung.

Azuma! Jetzt.
Nichts. Azumas Tischnachbar zieht die Zeitung zu sich. Der sitzt nur da und starrt den Kollegen an. Nach einer gefühlten Ewigkeit steht er auf und macht sich ohne große Hektik auf den Weg.

Der Monolog des Chiefs lässt nicht lange auf sich warten. Er erwähnt Azumas lange Reihe von Versetzungen. Schweigen. Erst als er den gestrigen Vorfall zur Sprache bringt, meldet sich der Kommissar zu Wort.

Warum sind sie denn nicht eingeschritten?
Ich hatte keine Verstärkung.
Azuma hat nicht nur die Regeln gebrochen, er hat außerdem eine Straftat vor seinen Augen geschehen lassen. Das Opfer war für ihn nicht einmal zweitrangig. Zumindest wirkt die Bemerkung mit der Verstärkung wie eine lauwarme Ausrede – was hätten 4 Oberschüler gegen ihn unternehmen sollen? Offensichtlich wichtig war ihm aber die Tracht Prügel, die er dem Schüler erteilt hat. Es wirkt fast so, als ob Azumas Job lediglich ein Weg ist, um seine gewalttätige Ader auszuleben.

Oder etwa nicht? Der Polizei-Chief hat erwähnt, dass sie Männer wie Azuma brauchen. Schließlich hat sich der Jugendliche tatsächlich gestellt. Das spricht eigentlich für die Effektivität von Azumas Vorgehen. Handelt der alte Polizeihase einfach unorthodox, weil es nicht anders geht? Erledigt er die Arbeit, für die sich alle anderen zu fein sind? Oder steckt gar nichts hinter Azumas Handeln als reiner, kurzsichtiger Impuls? Das legt zumindest seine Alles-egal-Haltung nahe.

Azumas Schweigen hat gleich mehrere Effekte auf den Zuschauer:

1. Es nimmt uns die Möglichkeit, den Polizisten einzuschätzen, auf die wir am ehesten zurückgreifen. Worte, Rechtfertigungen, Statements.
2. Ohne Worte bleibt uns nichts übrig, als ihn anhand seiner Taten zu bewerten. Viel mehr haben wir nicht zur Auswahl.
3. Azumas Handlungen bieten einen gewichtigen Gegenpol zu den wenigen Sätzen, die er spricht. Würde er wiederholt lügen, stünden alle Aussagen einfach gleichberechtigt nebeneinander. Seine Taten sprechen wiederum für sich selbst. Damit bieten sie einen deutlichen Ausgangspunkt für unsere Einschätzung des brutalen Cops.
So steuert uns Violent Cop direkt in ein Rätsel. Erst gibt uns der Film festen Boden, um uns mit Leerstellen und Widersprüchen zu überhäufen. Je mehr Situationen der brutale Bulle vor unseren Augen durchlebt, desto mehr Informationen bekommen wir, um das Mysterium Azuma zu lösen. Abgesehen davon sorgen all die schwelenden Konflikte sowohl für Spannung als auch für Humor. Azumas fehlende Anteilnahme zeichnet ihn als Draufgänger aus, aber auch als Chaoten, Spinner und Psychopathen. Wir müssen selbst bewerten, welcher Charakterzug alle anderen überschattet.

3. Macon Blair als Dwight – Blue Ruin (Jeremy Saulnier, USA, 2013)

Die Kamera zeigt ein Haus. Erst mehrere Räume, dann ein Badezimmer. Wir hören das Rauschen eines Wasserhahns. Plötzlich durchbricht ein Geräusch die Stille und der Mann in der Wanne (gespielt von Macon Blair) dreht das Wasser kurz ab, um besser zu hören. Fehlalarm. Also setzt er sein Bad fort.

Warum ist der Mann so nervös?

Noch einmal das Geräusch, nun lauter. Eine Autotür. Außenansicht aufs Haus. Eine Familie schlendert mit Gepäck die Einfahrt hoch. Der bärtige Mann flüchtet Hals über Kopf aus dem Fenster.

Das war nicht sein Haus.

Mittlerweile trocknet der Zottelbart in der Sonne. Dann fängt er an, Dosen und Pfandflaschen am Strand zu sammeln. Später wandert er zu einem rostigen Autowrack, für das er die Schlüssel dabeihat.

Der Mann ist obdachlos. Er badet in den Häusern fremder Leute, aber er stiehlt nichts. War das sein Auto, als es noch fuhr, oder hat er es mit Schlüssel vorgefunden? Und warum sieht der Kotflügel des Wagens aus wie ein Schweizer Käse? Was ist hier passiert?

Als der Morgen anbricht, weckt ein kurzes Fensterklopfen den schlafenden Mann. Die Polizei möchte ein Wörtchen reden. Geht es um den Einbruch? Das Herumlungern im Wagen? Oder hat der Mann mehr angestellt, als wir gesehen haben? Weiß er überhaupt selbst, um was es geht?

Nichts von alledem. Der Polizist erklärt Dwight (so heißt der Mann anscheinend) in aller Ruhe, dass der Mörder seiner Eltern aus dem Gefängnis freikommt. Von da an beobachten wir ihn bei seinem Rachefeldzug.

Plot-Puzzle

Der gesamte Film geht dabei vor wie gehabt. Detail folgt auf Detail, Handlung auf (scheinbar) wahllose Handlung: ohne Kommentar oder Erklärung. Wir müssen dranbleiben, um den Plot – und Dwights Modus Operandi – nachzuvollziehen.

So schauen wir ihm live bei den Vorbereitungen seines Plans zu. Was er als Nächstes vorhat, reimen wir uns ungefähr zusammen – wenn auch mit einigen klaffenden Lücken. Dadurch treffen unvorhergesehene Ereignisse nicht nur Dwight völlig unvermittelt, sondern auch den Zuschauer. Vielleicht sogar noch heftiger: Gerade weil wir keine Ahnung haben, was EIGENTLICH passieren SOLLTE.

Wir erkennen erst, dass es ein Problem gibt, wenn der obdachlose Rächer strauchelt, improvisiert und Fehler macht. In diesen Momenten verlieren sowohl der Protagonist als auch der Zuschauer den Boden unter den Füßen. Auch wir greifen nach Strohhalmen, sobald das Chaos losbricht. Das macht Dwights Panik unverfälscht und greifbar.

Eine Meile in den Schuhen des Amateurs

Solche Fehler passieren übrigens häufiger, als Dwight lieb ist. Schließlich handelt es sich bei dem zotteligen Rächer weder um Jason Bourne noch um James Bond, sondern um einen recht normalen Mann ohne Kampferfahrung. Der Plan des Überlebenskünstlers wirkt erst solide, bis er ihn in die Tat umsetzt und 20 Eventualitäten seine Vorhersagen durchkreuzen. So erscheint seine Rache dem Zuschauer als das, was sie eigentlich ist: die riskante und waghalsige Unternehmung eines Amateurs.

Exakt so fühlt sich Blue Ruin an: Als schlüpften wir in die Haut eines Mannes aus Fleisch und Blut, der sich in sehr reale Gefahr begibt. Wüssten wir, was der exakte Plan ist, wäre jede Abweichung sofort erkennbar und die Überraschung dahin. Blue Ruin kommt nicht nur (fast) ohne Rede aus – der Film könnte anders überhaupt nicht funktionieren. Das Unmittelbare der Geschichte geht in dem exakten Moment verloren, in dem uns jemand erklärt, was gerade passiert. Kein Rätsel um Dwight, keine geteilte Perspektive, kein Realismus, keine Spannung.

4. Nicolas Cage als „Hausmeister“– Willy’s Wonderland (Kevin Lewis, USA, 2021)

Ein wortkarger Herumtreiber (Nicolas Cage) bleibt mit seinem Auto mitten im Nirgendwo liegen. Um die Reparaturkosten zu bezahlen, willigt er ein, das verlassene Familienrestaurant am Stadtrand zu putzen. Nachts. Alles muss glänzen für die anstehende Neueröffnung. Das Problem: Die animatronischen Figuren erwachen nach Sonnenuntergang zum Leben und machen Jagd auf Eindringlinge. Der Fremde dient nur als unfreiwilliges Menschenopfer, um die flauschigen Fieslinge zufriedenzustellen.

Der Zuschauer ahnt, was jetzt passiert. Der Hausmeister nicht. Die offensichtlichen Warnzeichen ignoriert er, während er stur seiner Arbeit nachgeht. Nicht untypisch für einen Horrorfilm. Schließlich braucht ein Slasher-Film Opfer.

Als der erste Angriff stattfindet, wehrt Nicolas Cages Charakter die Kreatur problemlos ab. Spätestens jetzt müsste er aber flüchten. Pustekuchen. Schließlich hat er erneut für Unordnung im Restaurant gesorgt. Also putzt er unbeirrt weiter – ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, die noch immer auf ihn lauert. Während alledem verliert der Fremde kein einziges Wort.

Zu cool für Erklärungen

Der Vorgang wiederholt sich mehrere Male. Immer deutlicher stellt sich die Frage, was zum Teufel eigentlich mit Cages Figur los ist. Der Hausmeister nimmt die Gefahr nicht ernst. Er vergisst schlicht und einfach, dass er eigentlich in die Opferrolle schlüpfen sollte. Stattdessen lässt er den Albtraum um ihn herum aussehen wie lästige Hausarbeit, während er seine Angreifer in Mülltüten über den Jordan schickt. Heldenmut? Pflichtbewusstsein? Krankhafter Putzfimmel? Mit Sicherheit kann das niemand sagen.

Effekt auf den Zuschauer

Die ernste Situation und das Schweigen des Hausmeisters stehen im starken Kontrast zueinander. Wir reagieren auf Dinge, die uns kümmern – vor allem Gefahrensituationen. Vorzugsweise durch Sprache. Cage steht über dem Albtraum und verkehrt das Horrorklischee des unaufmerksamen Opfers ins Gegenteil. Er ist schlicht und ergreifend zu cool und zu wehrhaft, um zu flüchten oder zu sprechen.

Da wir keinerlei Erklärung für das Verhalten des Fremden bekommen, müssen wir uns selbst etwas zusammenreimen. Wir wissen nichts über ihn – abgesehen von seiner Vorliebe für schnelle Autos und (fiktive) Energy-Drinks. Möglicherweise ist er einfach ein enorm harter Hund mit einer Vergangenheit, die den Plot des Films im direkten Vergleich wie einen Kindergeburtstag aussehen lässt. Allein das wirkt bereits extrem unwahrscheinlich und absurd. Wie stehen die Chancen, dass gerade er in die Falle tappt?

Das wandelnde Mysterium der Figur funktioniert so gut, weil ihre Motive im Dunkeln bleiben. Die vielen Fragezeichen und Widersprüche bleiben ungeklärt im Raum stehen. Gefahr und Horror wechseln sich gleichberechtigt mit Putzarbeiten und Pausen am Flipperautomaten ab. Das wirkt nicht nur urkomisch, sondern lässt den Helden des Films abgebrüht und souverän aussehen. Währenddessen verblassen die Nebencharaktere komplett neben dem pflichtbewussten Hausmeister. Und das ohne eine einzige Sprechzeile von Cage – oder gerade deswegen.

Das größte Rätsel bleibt aber der Film, den Lewis als Inspiration für Willy's Wonderland nennt: Beyond the Black Rainbow. Ein Film, der abgesehen vom schweigenden Protagonisten nicht unterschiedlicher sein könnte.

5. Eva Bourne als Elena (und Michael Rogers als Dr. Barry Nyle) – Beyond the Black Rainbow (Panos Cosmatos, Kanada, 2010)

Mike Myers, Jason Vorhees, Leatherface, der Terminator – Horrorfilm-Schlächter folgen meist einer einfachen Formel. Tempo? Langsam und bedrohlich. Dialog? Fehlanzeige. Höchstens minimal. Schließlich soll der Mörder geheimnisvoll wirken, wenn er triebgesteuerte Jugendliche im Schutz der Dunkelheit zu Sülze verarbeitet.

Was passiert, wenn wir diese Formel ins Gegenteil verkehren?

Beyond the Black Rainbow wagt den Versuch. Ähnlichkeiten zuPanos Cosmatos' zweitem Film Mandy gibt es zwar reichlich, der schweigende Protagonist kehrt allerdings nicht wieder. Apropos:

Elena, die unfreiwillige Patientin einer New-Age-Klinik, spricht während des gesamten Filmes kein einziges Wort. Reaktionen zeigt sie ebenfalls nicht. Zumindest in der Anwesenheit anderer. Erst in der Stille ihres Patientenzimmers taut sie auf, wenn sie auf ihrem Fernseher telekinetisch durch die Kanäle zappt.

Der Schurke des Films redet zwar ebenfalls nicht wie ein Wasserfall, spricht aber mit Abstand am meisten. Dr. Barry Nyle bevorzugt vor allem bedeutungsschwangere, kurze Sätze im Flüsterton. Die aufgesetzte Freundlichkeit trägt er dabei wie ein schlechtes Karnevalskostüm.

Was Barry als Patientengespräch verkauft, mutet allerdings eher wie ein Verhör an. Elena nimmt nicht wirklich daran teil. Sie scheint sich keine Illusionen zu machen, dass sie keine Stimme in der Angelegenheit hat. Buchstäblich und im übertragenen Sinn. Sie ist für Barry weniger als ein Forschungsobjekt.

Barry stört das nicht. Es geht ohnehin mehr um ihn selbst. Um seine Verfassung und die psychotische Besessenheit mit seiner Patientin. Dieses „professionelle Verhältnis“ sorgt dafür, dass Elena ihm hilflos ausgeliefert ist. Aber es trennt ihn auch von ihr. Und das stört Barry offensichtlich sehr. Er wirkt bitter, hämisch und labil – so als stünde er kurz vor dem totalen nervlichen Kollaps.

Das steht auf dem Spiel

Der Rest des Films zeigt, wie Elena ihrem Gefängnis zu entfliehen versucht, während Barry Stück für Stück das letzte bisschen Fassung verliert. Elena ist dem Institut und Barry nahezu vollkommen ausgeliefert. Ein Prozent ihres Lebens gehört ihr. Von hier ist es vielleicht möglich, die restlichen 99 Prozent zurückzuerlangen.

Barry muss nur noch einen Schritt gehen, um vollends seine Fassade als pflichtbewusster Arzt abzustreifen. Sein letzter Rest Menschlichkeit kommt ihm vor wie tonnenschwere Fesseln. Er begehrt Elena, weil sie – wie er – das Menschsein hinter sich gelassen hat. Sie gilt ihm als Prüfstein, als letzte Hürde auf dem Weg zur Existenz als gottgleiches Wesen. Er muss sie auf seine Seite ziehen, um sich von der materiellen Welt zu lösen.

Der Schurke spricht, die Heldin schweigt – Was macht das mit uns?

Auch wenn Barry im Film präsenter wirkt – Elena ist definitiv unsere Protagonistin, mit der wir (hoffentlich) mitfiebern. Warum also lässt Regisseur Panos Cosmatos sie schweigen? Vielleicht gibt es keinen tiefergehenden Grund. Das Mädchen steht wahrscheinlich unter dem Einfluss starker Medikamente. Kein Wunder, dass sie abwesend herumsitzt und Barry reden lässt. Allerdings bleibt sie auch nach ihrer Flucht komplett stumm. Es muss also einen anderen Grund geben. Wahrscheinlich handelt es sic hum eine bewusste Entscheidung, um die Geschichte besser zu transportieren.

Ein zentrales Thema des Films ist laut Cosmatos "Kontrolle". Das legen auch die Zitate zu Filmen wie THX 1138 und Phase IV nahe (um nur einige zu nennen). Barry übt die Kontrolle im Film aus und das zeigt auch sein Sprechanteil. Er redet statt Elena, für Elena und über Elena – in ihrer Anwesenheit. Der Arzt hält alle Karten in der Hand. Die Patientin kann lediglich zuhören und abwarten. Sie ist ihm ausgeliefert, mit oder ohne Protest. Also kann sie genau so gut schweigen.

Beyond the Black Rainbow entzieht der Protagonistin die Eigenschaft zu sprechen. Damit demonstriert der Film, wie machtlos sie gegenüber der Figur ist, die am meisten redet. Elena lebt nicht nur als Gefangene des Instituts, auch ihre Gedanken wagen es nicht, durch Sprache in die Außenwelt vorzudringen.

Das ändert sich erst, als Elena ihre psychischen Kräfte benutzt, um mit Barry zu kommunizieren. In Wirklichkeit sieht das Machtverhältnis nämlich ganz anders aus. Elena ist nicht auf konventionellen Informationsaustausch angewiesen. Die Notwendigkeit zu sprechen hat sie hinter sich gelassen. Barry hingegen antwortet ihr mit Worten, weil er muss. Er teilt ihr Potenzial eben doch nicht – auch wenn er das gern hätte. Barry kann wahre Überlegenheit zwar erkennen und bewundern, aber mehr auch nicht. Außerhalb seiner künstlichen Autorität endet seine Macht. Dieser Gegensatz wird erst dadurch sichtbar, dass Elena eben nicht spricht.

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21.05.2021
Produktion:
2021
Medien:
DVD, Blu-ray, Stream
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