Ein Prophet

Keine Schonfrist für Insassen und Filmpublikum

Ein Prophet: Keine Schonfrist für Insassen und Filmpublikum
Ein Prophet: Keine Schonfrist für Insassen und Filmpublikum
   18.08.2010
Man muss kein "Prophet" sein, um zu erahnen, dass ein Spielfilm, der den großen Preis der Filmfestspiele in Cannes (Festival de Cannes Grand Prix 2010) erhielt und dem Regisseur Jacques Audiard eine Goldene Palme Nominierung in Cannes einbrachte, tatsächlich einiges "kann".

Wird Ein Prophet (Frankreich/Italien 2009) uns Zuschauer mit der ab sofort bereitstehenden DVD oder Blu-ray im Verleihprogramm ebenso stark beeindrucken und bewegen, oder wird man das Ausleihen bereuen? Wir haben uns in einem Selbsttest für zweieinhalb Stunden in den Heimkinoknast einweisen lassen und geben Ihnen nun, zurück im Tageslicht, einen kleinen Einblick hinter die Gefängnismauern.

Hinter Gittern

Ein Gefangener wird lauthals in eine Zelle geführt. Zunächst wird man nur mit partiell beleuchteten Filmbildern Zeuge der Szenerie, ein Blick durchs Schlüsselloch. Es handelt sich nicht um die Hauptperson Malik El Djebena, die man in den anschließenden 149 Minuten begleiten wird.
Malik (Tahar Rahim) sitzt schon in Untersuchungshaft und bekommt Besuch von seinem Anwalt, der ihm verkündet, dass die sechs Jahre Haftstrafe bei erreichter Volljährigkeit auch tatsächlich abgesessen werden müssen. Zwei bittere Szenen folgen auf dem Weg zur Verlegung ins Gefängnis: Ein Blick durch die Gitterstäbe des Transportwagens hindurch zur belebten Straße, Sonnenstrahlen, die flatternde Trikolore an einem Gebäude, der vorerst letzte Blick auf die Außenwelt. Dann die körperliche Untersuchung des nackten, verschmutzten Inhaftierten Malik, gefolgt von der Fragebogen-Abarbeitung des Gefängnisvorstehers.
Schon ist man mittendrin, im Geschehen von Ein Prophet. Im Knast, bei Malik, den man durch die nüchternen Fragen nach sozialen Kontakten drinnen und draußen, nach seiner Glaubensrichtung, nach der (fehlenden) Berufsausbildung auf kürzestem Weg kennenlernt. Wenn es Regisseur Audiard versteht, in so knapper Zeit einen stimmigen Filmcharakter aufzubauen, wollen wir auch zügig auf den Punkt kommen:
Nach einer Viertelstunde wird klar, dass ähnlich wie beim Gefängnisklassiker Midnight Express (1978) ein schonungsloser Umgang mit den Insassen und dem Filmpublikum folgen wird. Dass man sich auf eine richtige Geschichte mit glaubhaften Figuren einstellen kann, wie beim Gefängnisfilm Die Verurteilten (1994). Dass sich die Atmosphäre innerhalb der kriminellen Machthierarchien packend und unvorhersehbar steigern wird wie beim Mafia-Epos Der Pate (1972). Die zwei letztgenannten Filme erscheinen auf der ewigen Bestenliste der IMDb - Internet Movie Database auf den Spitzenplätzen 1 und 2.
Ein Prophet erzählt eine Geschichte dazwischen und verfehlt damit knapp den Einzug in die dortige Top 250. Ein "Best-of-Prison-Movies", bei dem man vor dem Fernseher von Anfang an bei der Sache ist und unter keinen Umständen in der Haut des Protagonisten stecken möchte. Keine Hoffnung auf Knastromantik, hier werden dir umgehend die Schuhe von Mithäftlingen abgezogen, in der Dusche wirst du nach Liebesdiensten gefragt und auf dem Innenhof in einen ausweglosen Handel getrieben. Und wenn du nicht spurst, schnürt dir ruck-zuck eine Plastiktüte über dem Kopf die Luft weg.

Folsom Prison Blues

Jacques Audiard hat die Geschichte um den elternlosen Franzosen Malik inszeniert, der nichts hat außer seiner maghrebinischen Abstammung, einer abgebrochenen Schulzeit und - obwohl erst 19 Jahre alt - einem ellenlangen Strafregister. Audiard, so war im Vorfeld zu lesen, habe einen früheren Film in einem echten Gefängnis vorgeführt und sei von den vorherrschenden Zuständen so geschockt gewesen, dass er diese Eindrücke in einem Film hinter Gittern verarbeiten wollte. Außerdem war es ein Wunsch des 1952 in Paris geborenen Filmemachers, die arabische Bevölkerung Frankreichs ins Zentrum seines neuen Films zu setzen, ohne jedoch in einem rein fiktiven Rahmen ein Bild der aktuellen Gesellschaft zu zeichnen.
Das Team aus seinem vorangegangenen Der wilde Schlag meines Herzens (2005) stand ihm dabei zur Seite. Schon dort fungierte der französische Charakterdarsteller Niels Arestrup (*1949) in der Rolle des Vaters als Stützpfeiler, der die Erlebnisse von Thomas (Romain Duris), einem aggressiv vorgehenden Immobilienspekulanten und leidenschaftlichen Klavierspieler, zusammenhält. Audiard zeigte bereits 2005 sein Können, scheinbar beiläufige Szenen zu zeigen, die den Zuschauer unvorbereitet treffen. Gut und Böse sind nicht klar definiert, der Vater will eine schwer zu durchschauende Geliebte heiraten und verstrickt sich in Geschäfte mit der russischen Mafia, ein befreundeter Ehemann geht regelmäßig fremd und die Arbeitskollegen von Thomas prügeln Obdachlose aus den neuerworbenen, leer stehenden Häusern. Menschliche Abgründe im Alltäglichen und gleichzeitig ein Hoffnungsschimmer, durch die frühere Passion am Klavier eine Art neues Leben anzufangen.
In Ein Prophet heißt der Protagonist nicht Thomas, sondern Malik und Niels Arestrup spielt keine Vaterfigur, sondern einen über Leichen gehenden Häftlingsanführer. Der Hoffnungsschimmer auf ein besseres Leben für Malik ist schwer auszumachen. Lesen lernen könnte ein Ausweg sein, schnell verdientes Geld und Anerkennung in den verfeindeten Lagern der arabischen Drogenschmuggler und einer korsischen Mafiaorganisation ist naheliegender. Welches Ende der Film für Malik bereithält, sollten Sie sich selbst anschauen.
Die Oscar-Nominierung 2010 als bester ausländischer Film, der Preis aus den Händen der British Academy of Film and Television Arts 2010, die zahlreichen César Auszeichnungen im Heimatland Frankreich, all diese Ehrungen kommen nicht von ungefähr. Ein wirklich guter Gefängnisfilm, dem man sich aufgrund von genretypischen Bestandteilen wie expliziter Gewaltdarstellung und durchweg ungeschönter Filmfiguren trotzdem mit Vorsicht nähern sollte.

Why not - warum nicht...

Zur Handhabung: Die getestete DVD-Ausgabe des Studios Sony Pictures Classics ist in ihrer Sprachen-Auswahl "Französisch - Deutsch" überschaubar, in den Untertiteln steht dagegen Englisch und Deutsch zur Verfügung. Ein vielleicht auch für Sie wichtiger Hinweis zu den Sprachfassungen: Startet man nach dem Einlegen der Disc den Film ohne Umwege über die Optionen, sieht man die Originalfassung. Wechselt man dort auf die deutsche Fassung, fehlen die Untertitel in den teils arabischen, teils französischen und sogar italienischen Dialogfetzen zwischen den Inhaftierten. Besser im Menü gleich die deutsche Fassung wählen, denn dann bekommt man eine sorgfältige Synchronisation vorgeführt, die in den fremdsprachigen Passagen mit einer kursiven Untertitelung hilft. Die Extras bieten Ihnen außerdem einen Audiokommentar des Regisseur Audiard, des Hauptdarstellers Tahar Rahim und des Co-Drehbuchautors Thomas Bidegain. Dazu werden entfallene Szenen, nicht wirklich erhellende Szenen aus den Vorbereitungen zum Dreh ("Rehearsal Footage"), Probeaufnahmen ("Screen Tests") und ein Kinotrailer gereicht.
Beide Filme von Jacques Audiard, Der wilde Schlag meines Herzens (2005) und Ein Prophet (2009), tun sich außerdem durch die Kameraarbeit von Stéphane Fontaine, durch den Schnitt von Juliette Welfling und die Musik von Alexandre Desplat (Blockbuster-verwöhnt durch New Moon 2009 und Harry Potter 2010) hervor. Produziert wurden Audiards Filme von der Firma Why not Productions, "warum nicht". Diese Einstellung können Sie sich beim nächsten Ausleihvorhaben in Hinsicht auf Ein Prophet getrost zu Herzen nehmen.

Die inzwischen nicht mehr geheimen Geheimtipps von Jacques Audiard:

Ein Prophet

Drama

Malik El Djebena (Tahar Rahim), gerade 19 Jahre alt, wird zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Der Franzose maghrebinischer Abstammung landet in einem Gefängnis, das von einer korsischen Mafiagruppe unter der Führung von Cesar Luciano kontrolliert wird....  mehr »

Produktion:
2009
Medien:
DVD, Blu-ray
Freigabe:
FSK 16
Bewertung:

Der wilde Schlag meines Herzens

Drama

Thomas 'Tom' Seyr (Romain Duris), ein jähzorniger Immobilienhai aus Paris, führt ein Leben am Rande der Legalität. Alle Versuche, sich dem zu widersetzen, scheitern kläglich. Und so droht Tom, wie sein alter Herr zu werden: halb kriminell, einsam, verbittert....  mehr »

Produktion:
2005
Medien:
DVD
Freigabe:
FSK 16
Bewertung:

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