Wie Anime auf Augenhöhe funktionieren kann - Was unterscheidet Anime von Zeichentrick? Wir werfen einen Blick auf Animation abseits der ausgetretenen Pfade.
Bei Anime – und auch Zeichentrick – handelt es sich im Grunde nicht um ein Genre. Vielmehr bestehen beide Medien selbst aus Genres wie Drama, Komödie, Crime, Horror und so weiter. Das Wort „Anime“ grenzt also lediglich das Ursprungsland
eines Zeichentrickfilms ein (sprich: Cartoons aus Japan). Aber was heißt das eigentlich in der Praxis? Gibt es überhaupt etwas, das japanische Animation inhaltlich oder sonst wie von westlicher Animation
unterscheidet? Ein zentrales Alleinstellungsmerkmal?
Anime und Zeichentrick – nur dem Namen nach verschieden?
Als Medium mit vielen unterschiedlichen Genres ist es natürlich schwer, Anime auf einen Nenner zu bringen. Trotzdem denken zumindest viele von uns zuerst an Dragonball, Sailor Moon oder Pokémon – also ein junges Publikum – wenn es um Anime geht. Das ist nicht nur hier so. Auch Zeichentrick bringen wir schließlich instinktiv mit
Disneys zahlreichen Kinderfilmen in Verbindung. Eine grobe Vereinfachung? Wahrscheinlich. In der Regel liegen wir mit dem ersten Eindruck aber nicht ganz daneben.
Westlicher Zeichentrick richtet sich hauptsächlich an Kinder. Anime spricht wiederum etwas ältere Zuschauer an, also Schüler im Alter von 9 bis 17. Das bestätigt auch das Zielpublikum des wohl erfolgreichsten Manga-Magazins in Japan: (Weekly) Shōnen Jump. Viele Serien wie
Dragonball (Z), Naruto und One Piece feierten hier lange vor ihrer jeweiligen
Fernseh-Adaption den
Einstand als Serie.
"Shōnen" bedeutet so viel wie „Junge“ oder „junger männlicher Teenager“ und gilt zugleich als das größte Manga- und Anime-Genre innerhalb und außerhalb Japans. Das weibliche Gegenstück zu Shōnen heißt übrigens „Shōjo“ und beschreibt vor allem Serien wie Sailor Moon oder
Cardcaptor Sakura.
Es gibt also einen leicht verschobenen Fokus beim Alter des Kernpublikums. Aber ist da noch mehr, was Animation aus Japan von Zeichentrick unterscheidet?
Was Anime besonders stark von westlicher Animation unterscheidet, ist die Bandbreite an Themen und Inhalten, die unabhängig vom Kernpublikum existieren. Zum Beispiel gibt es auch Anime, die sich ausschließlich an erwachsene Zuschauer richten. Zugegeben: Auch im Westen kommt das
vor. Zum Beispiel im Fall von Watership Down, Felidae, Animal Farm oder Wenn der Wind
weht. Diese Zeichentrickfilme behandeln deutlich komplexere Themen als der
durchschnittliche Cartoon im Nachmittagsprogramm.
Was sich allerdings nicht leugnen lässt, ist die eher kindlich-naive Ästhetik westlicher Beispiele. Häufig bringen sprechende Tiere komplexe Themen an das Publikum heran (oder knuffige Menschenfiguren mit freundlichen Knopfaugen). Selbst, wenn Themen wie Tod und Krankheit
sich auf der Leinwand breitmachen, wirkt alles wie aus einem Bilderbuch abgepaust. Dieser Kontrast sorgt häufig für ein Extra‑Maß an Verstörung beim unklaren Zielpublikum. Viele erwachsene Millenials erinnern sich an die kleineren und größeren Traumata, die sie mit den genannten Filmen
in
Verbindung bringen. Ein ganzes Füllhorn von Youtube-Essays widmet sich diesem Phänomen.
Watership Down und Konsorten können ihre jungen Zuschauer (und Eltern) offensichtlich lange genug davon überzeugen, dass es sich um einen Kinderfilm handelt, um zu den kritischen Stellen vorzudringen. Scheinbar schwingt in allen Fällen die Tendenz mit,
eben doch von einem sehr jungen Publikum auszugehen. Oder es zumindest unbewusst mitzudenken. Fest steht aber, dass der Fokus in westlicher Animation öfter der Kinderzuschauer bleibt als umgekehrt. Selbst wenn er eigentlich nicht zum Zielpublikum gehört. Ghost in the Shell, Akira und Die letzten Glühwürmchen auf der anderen Seite machen unmissverständlich klar, dass sie eben nicht für Kinderaugen gedacht sind. Ein Phänomen
wie das oben beschriebene gibt es hier schlicht und einfach nicht. Zumindest nicht im gleichen Umfang.
Hier liegt die große Stärke von Anime aus dem goldenen Zeitalter der Zellen-Animation – also den 80ern, 90ern. Offenbar gibt es in Japan abseits des Kernpublikums eine traditionell höhere Wertschätzung für Animation als legitime Kunstform: ganz ohne den Reflex, ein
Kinderpublikum mitzudenken. Das zeigen nicht nur Filme und Serien mit einem Fokus auf Sex und Gewalt wie Wicked City oder Fist of the North Star, sondern auch Beispiele wie Belladonna of Sadness, Wings of
Honneamise oder
Angels
Egg mit komplexen – ja, sogar tief
philosophischen – Inhalten.
Angel’s Egg setzt Dialog extrem sparsam ein und lässt stattdessen die Bilder des Films für sich selbst sprechen. Schließlich sind Filme kein Hörspiel. Der Zuschauer ist dazu angehalten, das Geschehen zu deuten und seinen eigenen Verstand zu benutzen. Gleichzeitig nutzt jeder Frame die volle
Bandbreite dessen, was Animation Live-Action voraus hat: totale Kontrolle über die visuelle
Komposition
des Films.
Nichts, was wir auf der Leinwand sehen, ist zufällig da. Weder Schauspiel, Kulissen, Licht, Wetter noch andere Störenfriede halten den Regisseur davon ab, seine Vision eins zu eins umzusetzen. Angel's Egg zeigt, dass Animation ein schier grenzenloses Potenzial für Menschen mit kreativer Vision
bereithält.
Leider scheint dieses Potenzial außerhalb Japans weitestgehend ungenutzt zu bleiben, denn Filme wie Angel's Egg oder Belladonna of Sadness haben keine Entsprechung im westlichen Zeichentrick. Wer einen Vergleich
anstellen möchte, wird
wahrscheinlich eher in der Filmographie David
Lynchs fündig als in einem Land vor unserer Zeit.
Auf Augenhöhe mit dem Publikum
Das ist es, was japanische Animation als Medium ausmacht: eine ganze Bandbreite von Geschichten, die sich
1. unmissverständlich an Erwachsene richten und
2. ihr Publikum ernst nehmen.
In den 90ern passierte dann etwas noch Bemerkenswerteres: Anime-Serien für junge Erwachsene begannen ebenfalls, ihrem Publikum auf Augenhöhe zu begegnen. Statt Animation als Medium für Kinder zu behandeln, gingen viele Studios den umgekehrten Weg und weigerten sich, ihren jungen
Zuschauern die anime-typische Flucht aus dem Alltag zu ermöglichen. Stattdessen forderten sie ihr Publikum auf, ihre Komfortzone zu verlassen. Ein Trend, der irgendwo in der Mitte der 00er Jahre zum Erliegen gekommen ist. Der Blick auf das goldene Zeitalter des Anime
zeigt, dass es
auch anders geht. Und dass komplexe Themen wie Freundschaft, Stärke und Erwachsenwerden eine Betrachtung auf Augenhöhe verdienen.
Cowboy Bebop und das Problem mit der Freundschaft
Cowboy Bebop – an der Oberfläche actionreich, witzig und cool – behandelt den eigenen Cast weniger wie unfehlbare Superhelden und immer häufiger wie echte Menschen mit glaubwürdigen Mängeln. Bei der Bebop (der Name des titelgebenden
Raumschiffes)
handelt es sich um
eine reine Zweckgemeinschaft aus Kopfgeldjägern. Die Crew kommt und geht wieder, sobald es etwas Wichtigeres zu tun gibt. Niemand geht das Risiko ein, sich wirklich auf die anderen einzulassen, sich
angreifbar und verletzbar zu
machen. Trotzdem steht die Bande füreinander ein – allerdings ohne sich die Blöße zu geben. Die Coolness von Spike, Faye und Co. ist nichts als eine dünne Fassade. Am Ende lässt die Serie den Zuschauer mit einer tiefen Melancholie zurück und versichert uns mit einer neuen Titelkarte im
Abspann:
Wie häufig schwören wir uns ewige Freundschaft und Treue – und sehen uns bereits nach dem Schulabschluss nie wieder. Das Berufsleben, die Familie und neue Ziele kommen uns oft dazwischen, und schließlich verlieren wir einander aus den Augen. Nicht, weil wir gelogen haben,
sondern weil das Leben häufig einfach anders spielt. Cowboy Bebop verliert sich nicht in Predigten, dass wahre Freundschaft alles überdauert, nur um dann die Serienwelt so anzupassen, dass dies auch reibungslos funktionieren kann –
bis sie nichts mehr mit dem richtigen Leben zu tun hat.
Hunter × Hunter (1999) und das Problem mit der Stärke
Wer das Shōnen-Genre kennt, dem ist das Phänomen Powercreep (schleichende Macht-Eskalation) bekannt: Unser Held trainiert und trainiert, wird stärker und stärker. 60 Folgen später schlägt er Löcher in die Mondoberfläche und bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit. Alle Nebencharaktere
stehen
nutzlos in der Gegend herum, bis Shōnen-Mann kommt und den Tag rettet. Währenddessen verliert die gesamte bisherige Geschichte mit jedem weiteren Aufleveln an Relevanz. Der Schurke aus Kapitel 1? Mittlerweile nur noch ein Witz. Ob er eine interessante Motivation oder einen
fesselnden
Charakter hatte,
interessiert
niemanden mehr. Viel wichtiger ist doch die Frage, ob Shōnen-Mann den nächsten Bösewicht bezwingen kann. Der gilt nämlich als der stärkste Ninja/Pirat/Superheld/Kampfkünstler im ganzen Universum und zerstört mit einem Fingerschnipsen
ganze
Planeten.
Spoiler-Alarm: Natürlich kann Shōnen-Mann. Schließlich läuft es darauf fast immer hinaus. Hunter × Hunter stellt eine seltene Ausnahme dar. Zwar geht es auch hier hauptsächlich um Abenteuer und Kämpfe gegen etwaige Widersacher, allerdings legt Yoshihiro Togashi besonderen
Wert darauf, seine
Welt so
komplex und detailliert wie möglich zu gestalten. Trotz zahlloser fantastischer Wesen, Kontinente und Regierungen wirkt alles wie aus einem Guss. Das liegt auch daran, dass das Universum von Hunter × Hunter augenscheinlich viel größer ist als das, was wir unmittelbar
sehen.
Der Zuschauer bekommt immer nur kleine Ausschnitte des großen Ganzen. Das gibt der Welt endloses Potenzial, anstatt direkt alle Grenzen zu sprengen – nur, um sie später an anderer Stelle wieder aufzubauen.
Raum zum Wachsen
Auch die Siege unseres Helden Gon bleiben stets im Rahmen des Plausiblen. Selbst kleine Triumphe wie einem erfahrenen Kampfsportler einen Volleyball
abzunehmen, geraten zum fesselnden Spektakel. Als Gon feststellt, dass der Meister nur einen Arm und ein Bein benutzt, um ihm eine Chance zu geben, sucht er sich ein neues Ziel: den alten Mann mit allen Mitteln dazu zu bringen, sein Handicap aufzugeben. Nicht mehr und nicht weniger.
Charaktere statt Pappkameraden
Später treffen Gon und seine Freunde zufällig auf ein Mitglied der berüchtigten Phantomtruppe, als sie versuchen, beim Armdrücken etwas schnelles Geld zu verdienen. Die junge Dame macht Gon zwar deutliche Probleme, doch er bezwingt sie trotzdem. Sie nickt, bedankt sich und geht
ihrer Wege. Als ein anderer Phantomtruppler fragt, warum sie als Linkshänder mit der rechten Hand angetreten sei, entgegnet Shizuku, dass ihr die rechte Hand gereicht worden sei. Da habe sie Gon auch die rechte Hand gegeben.
Wir erfahren so ziemlich gar nichts über die Kräfte der Bande oder
ob Gon
es mit ihnen aufnehmen kann. Was wir aber erfahren, ist, wie Shizuku tickt. Sie ist höflich, wirkt freundlich und etwas naiv. Menschlich eben. Auf jeden Fall nicht so, wie wir
uns ein Mitglied der Phantomtruppe vorgestellt haben. Vielleicht gibt es damit auch mehr über die Bande zu sagen als bisher angenommen. Togashi lässt vieles im Dunkeln und nichts ist einfach schwarz oder weiß. Das verleiht Hunter × Hunter schier unerschöpfliches
Potenzial.
Warum sollte es uns überhaupt interessieren, wer der Stärkste in dieser Welt ist und ob Gon ihn schlagen kann? Vielmehr schafft die Weigerung, eine Antwort zu liefern, Platz für die wirklich interessanten Fragen.
FLCL/Fooly Cooly und das Problem mit dem Erwachsenwerden
FLCL ist vor allem dafür bekannt, besonders verrückten Quatsch zu veranstalten, allerdings hat der Wahnsinn hier System. Unter der Oberfläche behandelt Studio Gainax Konflikte, die das Erwachsenwerden und die Liebe mit sich bringen. Und beweist dabei selbst eine Menge Reife,
auch wenn der Plot
zunächst etwas wirr daherkommt:
Naota lebt als Mittelstüfler in einer Kleinstadt mit einer mysteriösen Fabrik in Form eines Bügeleisens. Als seine neue Haushälterin Haruko ihn mit dem Motorroller anfährt, öffnet sich ein Portal
in seiner Stirn, aus dem regelmäßig aggressive Roboter schlüpfen. Scheinbar immer dann, wenn sich ein sozialer Konflikt einstellt, der Naota überfordert. Zusammen mit Haruko und ihrer Geheimwaffe (einer Bassgitarre) versucht Naota, die Kreaturen zu bezwingen und das
Liebesviereck unter
Kontrolle zu bekommen, in das er widerwillig geraten ist.
Reifeprüfungen
Die Geschichte ist noch absurder als die meisten Anime – bei weitem sogar. Hinter der Fassade geht jedoch eine Menge vor sich. Das wird klar, sobald wir den Charakteren einmal genauer zuhören. Naota hasst alles Kindische. Insbesondere, wenn Erwachsene wie sein Vater sich wie Kinder verhalten.
Dabei versuchen sie lediglich, ihr authentisches, unbeschwertes Ich zurückzugewinnen, das sie irgendwann beim Erwachsenwerden verloren haben. Und versagen dabei auf ganzer Linie. Authentizität lässt sich schließlich nicht einfach so auf- und absetzen wie eine Maske – das Gegenteil trifft
zu. Naota
wiederum ist dabei, den gleichen Fehler zu begehen. Indem er den Erwachsenen nur spielt und
seine Kindheit überspringt, verliert auch er Stück für Stück, was ihn ausmacht. Er überspringt den Reifeprozess einfach, anstatt sich Stück für Stück in sein eigenes, erwachsenes Ich zu verwandeln. Auch Naota trägt eine Maske – nur eben eine andere als sein Vater. Zumindest im Moment noch.
Eigentlich möchte er mehr wie sein älterer Bruder sein. Der lebt als professioneller Baseballspieler in den USA. Naota traut sich aber nicht, selbst den Ball zu schlagen. Haruko formuliert treffend: "Nichts kann passieren, bevor du den Schläger schwingst." Als dann ein abstürzender Satellit droht,
die
Stadt zu zerstören, heißt es: jetzt oder nie.
Liebe und Sexualität setzen als Teil des Erwachsenwerdens Risikobereitschaft voraus. Dazu gehört auch das Risiko, abgewiesen zu werden. Diesen Mut muss sich Naota – auch nachdem
ihm der erste Schlag gelingt – noch erarbeiten. Schwingen ist nur der erste Schritt. Mit dem Scheitern umgehen der nächste.