Serienkiller als Hauptfigur - Serienkiller im Kino geben uns die Möglichkeit, eines der finstersten Themengebiete aus sicherer Entfernung zu erkunden. Trotzdem trauen sich die wenigsten Filme, einen Mörder als Hauptcharakter einzusetzen. Kann das überhaupt funktionieren?
Jeder Film braucht eine Hauptfigur. Sie muss natürlich nicht immer ein klassischer Held ohne jeden Makel sein. Aber sie muss dem Publikum auf irgendeine Weise als Bezugsmöglichkeit dienen, damit es sich vorstellen kann, wie es wäre, selbst in der Filmwelt zu leben. Dafür braucht es
nicht einmal
einen Charakter, der uns zu 100 Prozent ähnelt. Aber wir müssen zumindest mit ihm sympathisieren und seine Handlungen nachvollziehen können.
Wir sind gewissermaßen der Copilot dieser Figur: Sie hält das Steuer in der Hand und trifft die Entscheidungen. Wir sitzen nur auf dem Beifahrersitz und
schauen zu. Was aber, wenn dieser Pilot ein Ziel wählt, das wir überhaupt nicht ansteuern wollen? Wenn wir am liebsten noch vor dem Start aussteigen würden? Wenn es keinerlei Gemeinsamkeiten und Sympathien gibt – und wir uns sogar wünschen, dass irgendjemand unsere Bezugsfigur
stoppen möge?
Was wäre, wenn es sich bei unserem Helden um einen Serienmörder handelt?
Filme über Serienkiller gibt es viele. Das Schweigen der Lämmer, Sieben, Zodiac: Sie alle drehen sich im Grunde um Mord und Totschlag, funktionieren aber als Geschichte mit
Unterhaltungswert. Das liegt auch daran, dass viele der Killer als Figuren überzeugen. Sie haben Charisma, bewundernswerte
Eigenschaften wie Intelligenz oder sogar Motive, die im richtigen (oder falschen) Licht Sinn ergeben. Hannibal Lecter und John Doe sind glaubhaft und dreidimensional.
Manchmal handelt es sich auch einfach um besonders effektive Fieslinge. Figuren, deren Boshaftigkeit so unverblümt ist, dass es fast schon Spaß macht, sie dabei zu beobachten.
Oder Figuren, bei denen wir kaum abwarten können, dass sie ihre gerechte Strafe erhalten. In jedem Fall erfüllen sie eine Funktion.
Aber sie sind in der Regel nicht das Zentrum der Geschichte. Dieser Platz ist für unsere Helden reserviert: Personen, mit denen wir als Durchschnittsbürger letzten Endes mehr gemein haben. Ihr alltäglicher Blickwinkel auf das Außergewöhnliche – den Killer – macht diese Geschichten erst nahbar
und
dadurch interessant.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Deswegen gibt es wahrscheinlich nur wenige Filme, die Serienkiller als Identifikationsfigur einsetzen. Oder gleich als Protagonisten. Sie funktionieren normalerweise in kleinen Dosen oder als Gegenstück zum Helden: nicht als Mittelpunkt der Geschichte. Meistens dauert es nicht lang, bis der
Schockwert einer solchen Geschichte verfliegt und der Eintönigkeit Platz macht. Es braucht also noch etwas anderes als Blut und Eingeweide, damit ein solcher Film einen bleibenden
Eindruck hinterlässt.
Schauen wir uns zwei gelungene Filmbeispiele an, die den Serienkiller in den Fokus rücken.
Achtung: Kleinere Spoiler voraus!
Henry: Portrait of a Serial Killer (John McNaughton: USA, 1986)
Genau, was wir suchen: Henry: Portrait of a Serial Killer macht einen Mörder zur Hauptfigur der
Geschichte. Und das mit recht großem Erfolg. Laut IMDB haben über
42.000 Zuschauer den Film mit durchschnittlich 7,0 von 10 Punkten bewertet. Ganz ohne Stars und spektakuläre Action.
Im Mittelpunkt steht der Mörder. Seine Taten kommen zwar vor, ihr Schockwert spielt aber – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle. Meist begleiten wir Henry bei ganz alltäglichen Dingen. Der Blickwinkel des Normalen, den wir aus üblichen Serienkiller-Geschichten kennen, bleibt erhalten. Nur
die Perspektive verschiebt sich.
Statt Agent Starling in den Gefängnistrakt zu folgen, wo sie Hannibal Lecter trifft, begleiten wir den Killer hinaus in die normale
Welt.
Hier begegnet er Menschen wie uns, mit denen wir uns identifizieren können. Wir verstehen, was in ihnen vorgeht. Von ihrem Blickwinkel aus können wir uns auf das Rätsel Henry einlassen.
Da wäre zum Beispiel Becky, die Schwester von Henrys Mitbewohner Otis, die allmählich eine Beziehung zum Serienmörder aufbaut. Was die ungleichen Figuren verbindet,
ist die Gewalt, die sie als Kinder erdulden mussten. Als sich beide allmählich öffnen, entdeckt Becky Gemeinsamkeiten und
glaubt zu verstehen, warum Henry sich so seltsam verhält. Der Zuschauer wiederum bringt Henrys Geschichte mit den Morden in Verbindung, von denen Becky zu diesem Zeitpunkt nichts ahnt.
Auch wir meinen, das Geheimnis gelüftet zu haben. Beide reagieren auf das Trauma, als Opfer von Gewalt aufzuwachsen. Becky verharrt in der Opferrolle, Henry entscheidet sich dazu, stattdessen den Täter zu spielen. Sie wollen der Gewalt auf unterschiedliche Weise entfliehen und keinem
von beiden gelingt es. Auf einmal gibt es eine Erklärung für das Mysterium Henry. Das Böse wird für den Zuschauer nahbar und verständlich.
Becky muss schließlich schlucken, als sich Henry in Widersprüche über seine Vergangenheit verstrickt. Henry hat sie – und uns – hinters Licht geführt. Er entzieht sich
unseren Erklärungsversuchen, egal wie sehr wir uns anstrengen. Henry tut, was er tut, und dafür gibt es keine einfachere
Begründung.
Fazit:
„Henry“ funktioniert so hervorragend, weil es um mehr geht als um Mord. Vielmehr befasst sich der Film mit dem Bösen selbst. Was ist es? Wie können wir es jemals verstehen? „Henry“ gibt uns einen Blickwinkel, indem er uns die Perspektive des Alltäglichen zur Verfügung stellt. Er lädt uns
regelrecht dazu ein, den Versuch zu unternehmen.
Becky und der Zuschauer begeben sich gleichermaßen auf die Suche nach Antworten. Das Böse in Form von Henry, sein Mysterium, stößt uns ab und zieht uns
gleichzeitig an. Als wir schließlich glauben, es in den Griff bekommen zu haben, zieht es uns mit sich in den Abgrund. Wir können es nicht
verstehen. Wir können nur den Versuch unternehmen, um schlussendlich doch zu scheitern.
Ein Cabrio, der freie Wüsten-Highway und die Cops im Rücken. Dazu ein Haufen Anarchismus im Gepäck. Mehr brauchen Mickey und Mallory nicht zum Glücklichsein. Um klassische Serienkiller à la Ted Bundy handelt es sich bei den frisch verheirateten Turteltauben allerdings nicht, eher um ein
zähnefletschendes Zerrbild von Bonnie und Clyde.
Raubüberfälle schocken das Pärchen allerdings schon lange nicht mehr. Stattdessen veranstalten die beiden einen ununterbrochenen
Amoklauf durch die Landschaft Nevadas,
inklusive Presseberichterstattung und internationaler Fanclubs. Realismus? Nebensache. Schließlich haben Mickey und Mallory nicht nur Recht und Gesetz den Krieg erklärt, sondern allen Regeln – Anstand, Moral, sogar den Prinzipien der Vernunft.
In Natural Born Killers geht es nicht um Antihelden. Vielmehr hievt der Film Sadisten in die Heldenrolle, bis die Filmwelt unter der immensen Last in sich zusammenbricht.
Natural Born Killers bricht alle Regeln – ein Anschlag auf herkömmliche Geschichten und Erzählweisen. Das spiegelt auch die filmische
Präsentation wider. Filmformate wechseln im Sekundentakt. Einstellungen in Schwarzweiß und Farbfilm folgen unmittelbar aufeinander. Was eben noch als
knallharter Actionfilm über die Leinwand flackerte, mutiert urplötzlich zu einer Kussszene im Stile der 50er Jahre, nur um gleich erneut das Genre zu wechseln. Rückblenden erscheinen als morbide Parodie einer Sitcom – sogar mit Publikumsgelächter aus der Dose.
All diese Widersprüche existieren einfach nebeneinander. Regisseur Oliver Stone versucht nicht einmal, das Durcheinander zu zähmen. Vielmehr lässt er Mickey und Mallory schalten und walten, wie sie es für richtig halten – die wiederum nehmen
prompt ihren eigenen Film samt Zuschauer als Geisel.
Natural Born Killers dürfte nicht funktionieren. Die Gründe liegen auf der Hand: Mickey und Mallory faszinieren zwar durch ihre Coolness und
Kompromisslosigkeit, aber ihre Mängel als Charaktere sind einfach zu groß. Selbst der Zuschauer stellt für Mickey und Mallory nichts als ein potenzielles
Opfer dar. Das beweisen sie mehrfach, indem sie kaltblütig Menschen töten, die ihnen gerade noch als Verbündete zur Seite standen.
Oliver Stone ist sich über die Probleme im Klaren, die Serienkiller als Hauptcharaktere mit sich bringen. Statt den Konflikt zu entschärfen, beschließt er, ihn zum zentralen Thema des Films zu machen. Ihn sogar durch ein stilistisches Wirrwarr zu betonen und maßlos zu übersteigern. Darin liegen
der Reiz und die Qualität des Films. Natural Born Killers ist ein Gedankenexperiment. Es zeigt, was passieren würde, wenn jemand Serienkiller als Helden missversteht – mit allen damit verbundenen Konsequenzen.
Zwei Erfolgsrezepte
Filme mit Serienkillern in der Hauptrolle können – wie wir sehen – durchaus funktionieren. Allerdings schaffen sie das in der Regel nicht aufgrund, sondern gerade trotz des Hauptcharakters. Beide Filmbeispiele verstehen dieses Problem und lenken ihre Aufmerksamkeit darauf:
„Henry“ tappt dabei nicht in die Spektakel-Falle, drückt nicht auf die Tränendrüse und versucht auch nicht, den Killer kurzerhand zum Opfer zu verklären. Er lenkt den Blick auf das, was wir am Bösen verstehen können, und lässt den Rest aus. Das gibt dem Film Authentizität und Tiefe.
Oliver Stone geht den entgegengesetzten Weg. Er umschifft das Problem nicht, sondern geht direkt auf Kollisionskurs. So macht er den Widerspruch „Serienkiller als Hauptfigur“ filmisch sichtbar – und kommt dabei ganz ohne Moralpredigt aus. Wir können aus sicherer Entfernung bei
diesem Gedankenexperiment zusehen und unsere eigenen Schlüsse ziehen.